Kurztext
Unmittelbar nach dem Sieg des Roten Oktober haben die bolschewistischen Machthaber eine beispiellose Umwälzung des von dem alten Regime hinterlassenen Gesundheitssystems gestartet. Diese war vom Bestreben getragen, die ethische Kultur der "bürgerlichen Medizin" zu zerstören und insbesondere das Arztgeheimnis aufzuheben – jenes Symbol der Professionsautonomie, das seit langem Ängste vor einem Verschwörerkreis ärztlicher Auguren nährte, um sich im Sowjetrussland im Gegenphantasma eines "gläsernen Arztzimmers" zu kristallisieren. Während das Schweigen der Ärzte dem politischen Bemühen zuwiderzulaufen schien, den „Neuen Menschen" dem ärztlichen Blick und durch diesen dem der Regierung und Partei zu unterwerfen, rief das Volkskommissariat für Gesundheitsschutz dazu auf, den Arzt unter der "Glasglocke der Arbeiter-und-Bauern-Öffentlichkeit" arbeiten zu lassen. In der Folgezeit zeigte sich jedoch immer deutlicher, wie weit dieser Kontrollanspruch und reale Möglichkeiten, ihn auszuüben, auseinanderlagen und wie eng die Auseinandersetzung um die ärztliche Ethik mit dem heute noch ungelösten Dilemma zwischen gesamtgesellschaftlicher und funktioneller Rationalität der Medizin zusammenhing.
> Titelinformation (pdf)
Rezensionen
"glänzend geschrieben" Martina Lenzen-Schulte, FAZ, 24.06.2016
"… wird auf lange Sicht ein Standardwerk bleiben." Björn Felder, H-Soz-Kult, 08.06.2016
Dieser Band wurde außerdem rezensiert von:
Benno Hafeneger, Hessisches Ärzteblatt, 2016/12
ISSN 2193-5823
Herausgegeben von Heiner Fangerau, Renate Breuninger und Igor Polianski
Das griechische Wort "Anamnese" bedeutet Erinnerung und steht zugleich für die diagnostische retrospektive Befragung in der klinischen Praxis. Die zur Hälfte mit diesem Begriff überschriebene Fachbuchreihe zur "Wissenschaftsforschung" hat ihren besonderen Schwerpunkt in der Rekonstruktion und Analyse medizinischer und naturwissenschaftlicher Denkstile, Wissensordnungen und Praxen. In Verbindung mit dem Begriff der "Kultur" zum Kompositum KulturAnamnesen steckt die Reihe jedoch ein weit größeres Feld der humanwissenschaftlichen Erkenntnis ab. Die Reihe öffnet sich auch Monographien, Sammelbänden und Editionen aus anderen Fachrichtungen. Insbesondere öffnet sie sich humanwissenschaftlichen Disziplinen, die Medizin und Nachbardisziplinen aus ihrem jeweils eigenen Blickwinkel "befragen" möchten: z.B. den Literatur- und Medienwissenschaften, der historischen Anthropologie und Ethnologie, der Soziologie und den Religionswissenschaften.
Ein ganz spezifisches Anliegen der KulturAnamnesen besteht darin, die kulturhistorisch vertiefte Geschichtsschreibung für eine Deutung der Gegenwart der Medizin und Biowissenschaften in ihrem historischen Gewordensein fruchtbar zu machen. Die Bedeutungsverschiebung von der Geschichte zur Anamnese, markiert einen lebenspraktischen Gegenwartsbezug, da Anamnese immer eine auf den "Status praesens" bezogene, handlungsanleitende Erhebung ist, und eröffnet zugleich eine philosophische Perspektive auf die theoretischen und historischen Grundlagen der Medizin und Biowissenschaften. Die Reihe zielt damit auf einen Brückenschlag von der Vergangenheit dieser Wissensfelder hin zu einer Epikrise ihrer Herausforderungen im Umfeld der Kultur von heute.
|